Industriekultur und Maginotlinie – im Grenzgebiet von Luxemburg und Frankreich gibt es Vergangenes, Verfallenes und Morbides en masse zu entdecken. Aber wer mit offenen Augen fährt, entdeckt auch vielerorts die Wurzeln der europäischen Gemeinschaft.
Der Luxemburger Süden und das angrenzende Nord-Lothringen auf französischer Seite entlocken dem verwöhnten Motorradreisenden in landschaftlicher Hinsicht bestenfalls ein müdes Gähnen. Einzig die blaue Linie der sich windenden und krümmenden Mosel verlockt beim Anblick der gebirgsarmen Gegend auf der Landkarte. Aber es gibt andere Gründe, in diese – zumindest teilweise - als etwas schmuddelig verschrieene Gegend zu fahren. Hier gibt es spannende Industriekultur in Hülle und Fülle und auch viel Historisches aus den Weltkriegen im Allgemeinen und der Maginotlinie im Speziellen zu entdecken. Aber hier kann man nicht nur Vergangenes, Verfallenes und Morbides erfahren, sondern auch den Geist und die Wurzeln des gemeinschaftlichen Europas.
Von der belgischen Provinz Luxembourg kommend, in der uns schon vieles en route auf das Thema Kohle, Eisen und Bergbau eingestimmt hat, rollen wir ins französische Lothringen (franz. Lorraine). Kleine Arbeiterhäuschen in grau und braun dominieren beiderseits der Grenze des Bild. So manche „Hütte“ ist nicht in bestem Zustand. Adrettes oder gar Prunkvolles sucht das Auge meist vergeblich. Uns gefällt´s: Irgendwie wirkt das „ehrlich“ auf uns und ganz nebenbei sieht es anders als das für uns Gewohnte aus und erfüllt damit ein ganz wichtiges Kriterium für eine interessante Motorradtour.
In dem auf den ersten Blick unscheinbaren Örtchen Basilieux halten wir an der Kirche. Davor eine Gedenkplatte mit den Namen der im ersten Weltkrieg Gefallenen, auf der ein lebensgroßer toter Soldat liegt und neben der zwei Frauen trauern. Eine Infotafel erzählt in Französisch und Deutsch von zwei jungen französischen Soldaten, die sich nach der Schlacht von Longwy hinter den deutschen Linien wiederfanden. 17 Tage lang marschierten sie, in der Hoffnung, sich zu den eigenen Truppen bei Verdun durchzuschlagen. Letztendlich versteckten sie sich hier dann endlose 1526 Tage lang auf einem Dachboden vor den deutschen Besatzern. Neben der interessanten Geschichte finden wir vor allem die Zweisprachigkeit der Infotafel im ansonsten klischeegemäß eher fremdsprachenignoranten Frankreich bemerkenswert. Eine Erfahrung, die sich auf unserer Tour vielerorts wiederholen wird: Was uns einst entzweite und beiden Nationen einen ungeheuren Blutzoll abforderte, ist heute ein verbindendes Element geworden. Es geht darum, gemeinsam daran zu erinnern und zu mahnen – inklusive zweisprachiger Texte, damit auch der einstige Feind und heutige Freund es versteht.
In vielen Örtchen sehen wir gut erhaltene öffentliche Waschhäuser, in deren Bassins das Wasser im Vorbeifahren spiegelt. Auf dem Dorfplatz von Moulaine gönnen wir uns ein Frühstückspicknick.
Während wir genüsslich französischen Camembert, Baguette und Tomaten mampfen, betrachten wir müßig die Kirchenruine, die plastische Gedenktafel der Minenopfer und die liebevoll angemalten Loren, von denen wir in diesen zwei Tagen einige Dutzend in ebenso vielen Gemeinden zu Gesicht bekommen werden.
Schon von Weitem sehen wir den Bunker mit der im Wind flatternden französischen Fahne aus den gelben Rapsfeldern aufragen. Angesichts der kleinen Wiese davor malen wir uns in Gedanken aus, wie fein es wäre, hier zu zelten, als ein Polizeiauto mit knirschenden Reifen über den Schotter rollt und seine Insassen uns misstrauisch beäugen. Scheinbar bestehen wir die kritische Prüfung und sie ziehen bald wieder Leine. Zwei Motorradfahrer, die wenige Minuten später extrem sportlich über einen geteerten Feldweg brettern, lassen uns vermuten, dass dies wohl die von der Staatsmacht gesuchten bösen Buben sind.
Ein Treppchen führt auf den Bunker, von dem aus man einen erstklassigen Ausblick über die weiten Felder ringsum hat. Einzig der so gar nicht zum Baujahr des militärischen Bollwerks passende Nato-Stacheldraht irritiert im Blickfeld. Im krassen Kontrast zur dieser ländlichen Idylle steht das südluxemburgische Esch/Alzette, das mit seinen Nachbargemeinden beiderseits der gerade mal noch durch kleine, blaue Schilder markierten Grenzen zu einem einzigen Industriemoloch verschmilzt. Fabriken und Wohnhäuser scheinen wild durcheinander gebaut zu sein. Für den einen der reinste Horror, für den anderen höchst faszinierend! Auf dem Escher Galgenberg schlagen wir auf dem Campingplatz unser Zelt auf und begeben uns dann zu Fuß auf Entdeckungstour auf Terres Rouge – der roten Erde, dem größtenteils dem Verfall preisgegebenen Industriegelände der Stadt.
Begeistert stromern wir zwischen den mit Graffitis über und über besprühten Fabrikhallen, inmitten rostigen Stahls und brüchigem Mauerwerks umher, wo alles gigantisch wirkt und die Phantasie beflügelt. Das Knirschen der allgegenwärtigen Glasscherben wird zum Soundtrack einer höchst spannenden Exkursion, bei der wir wie kleine Kinder ständig einander auf neue Dinge aufmerksam machen und versucht sind, hinter jeder Ecke und Mauer zu schauen.
Euphorisch und doch von der Sorge geplagt, das eine oder andere Spannende auf Terres Rouge übersehen zu haben, schauen wir uns später dann noch „den Rest“ von Esch an. Die Uni mit ihrer futuristisch anmutenden Bahnstation und eine nicht minder moderne Gleisüberführung beim Bahnhof stehen in interessantem Kontrast zum industriellen Niedergang. Die für eine solch kleine Stadt ungemein große Einkaufszone zeigt uns die andere Seite Luxemburgs und langweilt uns schnell. In einem Imbiss verdrücken wir eine exzellente Pizza. Der Wirt betont mehrfach, ein echter Italiener zu sein in diesem Land, dessen dominierende Gastarbeiternation die Portugiesen sind, die wohl nun in zweiter Generation scheinbar auch die Gastronomie erobern und sich auch als Pizzabäcker versuchen.
In der Nähe von Rumelange gibt es viele liebevolle Open-Air-Exponate des Nationalen Bergbaumuseum zu bestaunen. Aber nicht nur hier, sondern in unzähligen Gemeinden in dieser Gegend finden sich farbenfroh lackierte Loren und ausrangierte Bergbähnchen auf Dorfplätzen und am Wegesrand.
Und genau das macht das Erlebnis aus: Man fährt durch nette Örtchen und schöne Natur und überall gibt es Kleines und Großes zu entdecken: zum Bergbau, zum Stahl, zur Maginotlinie und den Kriegen. All diese Themen kann man in dieser, für eine Industrieregion dünn besiedelten Gegend quasi im Sattel sitzend erfahren.
Touristische, moderne Cafés und Restaurants üben wenig Reiz auf uns aus. Wir mögen Lokalkolorit und einfache, zuweilen auch etwas schäbige Lokale. So halten wir spontan am Café de la Gare in Rumelange für einen Kaffee. Um 9:30 Uhr bin ich der einzige an der gut besetzten Theke, der kein Bier trinkt. Dennoch nimmt die Wirtin meine „konservative“ Bestellung freundlich auf. Der Cappuccino und der Latte, der uns sodann am kleinen Tischchen auf dem Bürgersteig serviert werden, können sich optisch sehen lassen und der Preis ist eine angenehme Überraschung im ansonsten gastromäßig eher hochpreisigen Luxemburg. Als Sahnehäubchen gibt es noch Stoff für Spekulationen: Einer der Gäste scheint sich gerade offiziell auf einer ausgedehnte Gassi-Runde zu befinden. Sein Hund langweilt sich mächtig und wir malen uns die Lügengeschichte aus, die er gleich seiner Gattin erzählen wird, um die Fahne zu erklären.
In Dudelange hat´s uns „Op de Schmelz“ mit seinem Wasserturm und Pumpwerk angetan. Apropos Wasserturm: Die sieht man hier überall – in urbanen Gebieten und wie UFOs auf Säulen thronend aus Feldern aufragend.
Das französische Hayange wird von seinen Hochöfen dominiert. Es lohnt sich, das Gelände, das leider für uns unzugänglich ist, mit dem Motorrad zu umrunden. Man entdeckt so immer wieder neue Perspektiven und andere spannende Objekte. Zu-Fuß-Muffel können in dieser Region kreuz und quer durch die Industriestädte fahren und im wahrsten Sinne des Wortes, all das einfach erfahren.
In Uckange, von dessen Stahlmonster wir eindrucksvolle Bilder im Netz gesehen hatten, wollten wir eigentlich eine Besichtigungstour machen, aber wir stehen vor verschlossenen Toren. Die werden erst in einigen Stunden geöffnet. So lange wollen wir nicht warten. Uns zieht´s weiter.
In Veckering weist an einer T-Kreuzung ein alliierter Panzer den Weg zur Festung Hackenberg. Die zweieinhalbstündige deutschsprachige Führung durch die Bunkeranlage schließt eine Fahrt mit dem Untergrundbähnchen mit ein. Lebensgroße Puppen zeigen in diverse Szenen anschaulich das angedachte Ernstfall-Leben unter Tage: Zahnarzt, Operationssaal, Küche, Waffen auch Militärkräder und -gespanne. Sehr bewegend finden wir die Gas-Anzüge für Kinder und Kinderwagen!
Auf dem Weg zur Bunkeranlage Galgenberg Bloc 6 biegen wir spontan in Richtung der vier, die Landschaft dominierenden Kühltürme des Atomkraftwerkes Cattenom ab. Die Straße endet am Lac du Mirgenbach, auf dessen Wasserfläche sich die Dampfwolken ausstoßenden Türme spiegeln.
Einerseits steht der Reaktor für den Fortschritt im Vergleich zur Kohle, deren Abbau viele Leben direkt und indirekt gekostet hat. Andererseits ist auch diese Energiegewinnungsart nicht ohne Gefahr und die Diskussion um den Atomausstieg ist für die Deutschen im Grenzgebiet graue Theorie, solange Störfälle in Cattenom sie dran erinnern, dass auch der atomare Tod keine (europäischen) Grenzen kennt.
Unser Heimweg führt uns am mittelalterlichen Städtchen Rodemack vorbei, durch das sich ein kurzes Ründchen mit dem Krad lohnt, wenn man sich nicht die Zeit für einen kleinen, stimmungsvollen Spaziergang nehmen will.
In Schengen machen wir ein letzte mal für diese Tour einen geschichtsträchtigen Stopp. Das Städtchen verkörpert wie kaum ein anderes den Geist Europas. Hier wurde vor über 30 Jahren das (erste) Schengenabkommen von Deutschland, Frankreich und den Beneluxstaaten auf einem Schiff auf der Mosel unterzeichnet. Viele Staaten sind seitdem dazu gekommen, bei denen wir als Motorradreisende heutzutage einfach unbehelligt über die kaum noch wahrnehmbare Grenze rollen, ohne Pass und Fahrzeugpapiere vorzeigen oder gar Visa und temporären Fahrzeugimport beantragen zu müssen. Und auch Kohle und Stahl, die uns auf dieser Tour begleitet haben, passen thematisch dazu. Sie waren der Grund für die Montanunion aus der peu a peu die Europäische Union entstehen sollte. Selbst die Bunkeranlagen der Maginotlinie und die Relikte aus zwei Weltkriegen, in denen Frankreich und Deutschland sich einst als erbitterte Feinde gegenüberstanden, wirken heute eher in ihrer zweisprachigen, mahnenden und aufklärenden Ausrichtung völkerverbindend als -trennend.
Zwei Tage lang haben wir europäische, industrielle und militärische Geschichte auf sehr interessante Weise erfahren – eine richtig feine Motorradtour, die auch ohne Gebirge viel Spaß gemacht hat.
Hintergrundwissen zur Tour - kurz und knapp
Das erste Schengenabkommen wurde 14. Juni 1985 von Deutschland, Frankreich und den drei Beneluxländern unterzeichnet und rund zehn Jahre später in Kraft gesetzt. Wichtigster Punkt in der Wahrnehmung von Motorradreisenden: Der Abbau der Grenzkontrollen. Im Laufe der Jahre kamen rund 20 weitere Ländern hinzu, sowie einige andere Staaten, die de facto oder teilweise keine Grenzkontrollen zu den Schengenländern haben. Schengen- und EU-Länder sind nicht deckungsgleich. Es gibt Nicht-EU-Länder, die mitmachen und EU-Länder, die nicht dabei sind.
Im Rahmen der Flüchtlingskrise wurden die Schengen-Regeln von mehreren Teilnehmer-Ländern (vorübergehend) außer Kraft gesetzt.
Die Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) wurde 1951 von Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden gegründet und stellt quasi einen Vorläufer der EU dar.
Die Maginotlinie war ein Verteidigungssystem, das aus einer Vielzahl von Bunkeranlagen entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg, Deutschland und Italien bestand. Vorwiegend wird der Begriff für die Bunker entlang der deutsch-französischen Grenze benutzt, von denen viele besichtigt werden können.
Giftgas wurde im ersten Weltkrieg erstmals großflächig von Deutschland in Belgien und im weiteren Kriegsverlauf auch von anderen Armeen eingesetzt. Über die völkerrechtliche Zulässigkeit des Kampfstoffes gab es damals schon konträre Meinungen. 1925 wurde das sogenannten Genfer Abkommen unterzeichnet, dem mittlerweile 137 Vertragsparteien beigetreten sind. Voller Titel: Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege.
Infos zur Tour "Industrie-Kultur & Maginot-Linie"
Belgien, Luxemburg und Frankreich sind EURO, EU und Schengen-Länder, haben Verkehrsregeln und Schilder, die den unseren stark ähneln. Personalausweis und deutsche Motorradpapiere reichen als Dokumente und müssen in der Regel nicht gezückt werden.
Luxemburger sprechen alle Deutsch, allerdings arbeiten in der Gastronomie viele französischsprachige Ausländer. Man trifft auch in Belgien und Frankreich oft vielsprachige Menschen. Französisch ist jedoch die dominierende Sprache.
Nicht nur weil für die in dieser Region lebenden Menschen das Überqueren der Grenzen Alltag ist, finden sich dort viele Befürworter der Europäischen Gemeinschaft.
Supermärkte haben in Lux, B und F etwas höhere Preise als die deutschen, wobei das Großherzogtum generell am teuersten ist. Ausnahme: Benzin. Sprit kostet in Luxemburg rund 20 Cent weniger als bei uns. Der Preis ist an allen Tankstellen im Land der gleiche und schwankt dort nicht untertägig, wie das in den letzten Jahren leider in vielen Ländern üblich geworden ist.
Hotels und Campingplätze finden sich vor allem entlang der Mosel, aber auch in etwas geringerer Zahl im übrigen Teil der drei Länder unseres Tourgebietes.
Aufgrund seiner Lage ist der Campingplatz in Esch/Alzette besonders zu empfehlen, da er nur wenige Minuten zu Fuß von Terres Rouge entfernt liegt (allerdings auf einem steilen Hügel).
Lust auf eine Führung durch eine Industrieanlage?
Man beachte die Öffnungszeiten für Führungen ohne Anmeldung, damit man nicht wie wir vor verschlossenen Toren steht.
Empfehlenswert: Nationales Bergbaumuseum in Luxemburg = Musee National des Mines de Fer
Viele interessante Exponate vorm Museum und in der näheren Umgebung. Führungen schließen auch eine Fahrt mit dem Untergrundbähnchen mit ein.
Letzteres Erlebnis kann man auch in der Maginot-Linien-Festung Hackenberg haben, durch die es auch deutschsprachige Führungen gibt: http://maginot-hackenberg.com
Als interessante Erweiterung der Tour und eindrucksvolles deutsches Beispiel von Industriekultur und -ruinen sei im nahen Saarland die Völklinger Hütte empfohlen:
https://www.voelklinger-huette.org/
Landkarten-Tipp:
Das Buch zu unserer sechsmonatigen Winterflucht: